Als die Liebe noch nicht zur Hure der Wissenschaft gemacht werden konnte, unternahm ein Franzose im besten Mannesalter den Versuch, sie zu erklären. Sei Name war Henri Beyle, besser bekannt als Stendhal.
Er unterscheidet vier Arten der Liebe:
1. Die leidenschaftliche Liebe.
2. Die gepflegte oder galante Liebe.
3. Die rein sinnliche Liebe.
4. Die Liebe aus Eitelkeit.
Zur leidenschaftlichen Liebe müssen wir kaum etwas hinzufügen. Die grenzenlose Wollust, die sich über alle moralischen Grenzen hinwegsetzt, ist ihre Triebfeder und sie wir nur hin und wieder durch kulturelle Einflüsse zurückgedrängt. Heute finden wir sie in der erotischen Literatur ebenso wie im pornografischen Taschenbuch. Doch anders als zu Stendhals Zeiten kann sie heute so gut wie jeder auch körperliche empfinden und darüber reden oder schreiben, was er dabei empfindet.
Das Gegenteil ist bei Stendhal ist die gepflegte Liebe, so, wie sie von den Fürsten- und Bürgerhäusern nach außer zelebriert wird: Alles wird in leuchtenden Farben ausgemalt, schwärmerisch vorgetragen und damit überhöht. Ihren Ursprung hat sie in der Minne, in der sozusagen „stufenweise“ festgelegt war, wie man eine Frau galant zu verführen hatte und wann welche Gunst gewährt wurde. Stendhal bezeichnet sie als einen „mühsam vor sich hinschleppenden Schwächling“. Heute finden wir sie in der Mehrzahl der Liebesromane, wieder, wobei die Skala von trivialen Groschenromanen bis zu dickleibigen Werken gefeierter Schriftstellerinnen reicht. Im realen Leben kommen diese „Überhöhungen“ heute nur noch selten vor, jedoch beklagen rückwärtsgewandte Menschen manchmal, die Liebe würde heute in zu „knalligen“ Farben geschildert.
Die rein sinnliche Liebe ist die Liebe des reinen Fühlens, aber auch die der kitschigen Ausmalungen der Sinne. Die einfachen, oft linkischen Verführungen im Jugendalter, die „innere Flamme“, die lodert, die Verliebtheit, das Warten … das ist die sinnliche Liebe. Sie taucht in der Mädchen- und Frauenliteratur auf, oft als Ideal einer „rein sinnliche Liebe“, also einer Liebe, die vom Triebhaften so gut wie frei ist. In der heutigen realen Welt finden wir diese „romantische Liebe“ oder „zarte Liebesbande“ bestenfalls noch im schwärmerischen Umgang mit der Liebe und in der Verklärung der ersten Begegnungen als „Romanzen“.
Die Liebe aus Eitelkeit ist die schlimmste Form der Perversion. Man liebt nicht, sondern versucht, sich min einem „tollen Hecht“, oder einer „schön gewachsenen Maid“ zu schmücken. Wir müssen nicht in die Literatur schauen, um zu wissen, was hier vor sich geht: Bis heute gibt es die eitlen Gockel, die sich mit den makellos schönen, mädchenhaften Frauen schmücken. Bei den Frauen sind es heute die Akademikerinnen und gut verdienenden weiblichen Führungskräfte, für die nur die Sahnestücke am Männermarkt infrage kommen. Hier hat sich also wenig verändert.
Ãœber die Entstehung der Liebe entwirft Stendhal ein Schema, das hier vereinfacht und sprachlich aktualisiert wiedergegeben wird. In Klammern die Bezeichnung bei Stendhal)
1. Jemand erregt unser Interesse. („Bewunderung“).
2. Wir können uns vorstellen, wie schön es wäre, von der Person liebkost zu werden. („Wunsch“).
3. Wir erleben erste Wellen der Wollust und der Begierde und hoffen auf mehr. („Hoffnung“).
4. Die Zeit der Liebeswonnen und des Liebesgenusses beginnt. („Geburt der Liebe“).
5. Die Verklärung der Liebe beginnt. Der Partner wird überhöht. Man ist verblendet. („Erste Kristallisation“).
6. Zweifel an der Liebe werden laut. Wir erkennen, dass wir uns zu schnell von der Liebe überwältigen ließen, dass die geliebte Person auch Eigenschaften hat, die wir übersehen haben – kurz: Wir sehen, dass der Alltag Einzug hält. („Zweifel tauchen auf“).
7. Die Liebe wird auch jenseits der ersten Verliebtheit neu entdeckt, etwa nach dem Motto: „Mit ihr/ihm ist es wundervoll, und ich kann mir vorstellen, dass unsere liebe eine Zukunft hat.
Bei Stendhal müssen drei Punkte berücksichtigt werden:
1. Die Zeit, in der er lebte, war 1783 – 1842. Manche Betrachtungen orientieren sich stark an der Literatur und an dem, was die Oberschicht über die Liebe aussagt.
2. Für nahezu jeden Bereich des Lebens, vor allem aber für die Liebe, gab es Konventionen, die auch Stendhal nicht vollständig überwinden konnte – sein Buch muss also aus der Zeit heraus verstanden werden.
3. Die Sichtweise war nahezu vollständig männlich. Nur besonders exponierte Frauen wagten in jener Zeit, über die Liebe zu sprechen, und die auch nur sehr zurückhaltend.
Dennoch sind Stendhals Betrachtungen auch heute noch aktuell. Gibt es sie nicht auch heute, die Frauen, die sich Ihrer Wollust schämen? Schmücken sich nicht auch heute noch Frauen wie Männer mit ihren Partnern wie Trophäen? Und wie ist es mit der Literatur? Sind etwa nicht nahezu 98 Prozent der Liebesliteratur, gemessen an dem, was über den Buchhandel geht, aufgeblähte Kitschromane über die Liebe?